Stephan Witzel

Facing Virtual Reality

Als Stormtrooper zu Gast in einer virtuellen Welt

Auf einmal brach der Boden weg. Vor uns tat sich ein endlos wirkender Abgrund auf. Inmitten einer höhlenartigen Umgebung standen wir auf einer kleinen, steinigen Plattform. Ich dachte: Was ist nun zu tun? Wie nur konnten wir in diese beklemmend wirkende Situation geraten?

Am 3. Februar 2017 besuchte ich gemeinsam mit Alberto, einem Freund, das Virtual Reality Center (kurz: VRC) in Dietlikon bei Zürich.[1] Als bekennende ‹Virtual Reality-Noobs› hatten wir uns dazu entschlossen, im VRC den sogenannten Explorer auszuprobieren. Dabei handelt es sich um «ein Erlebnis für all jene die zum ersten Mal Virtual Reality mit all seinen Möglichkeiten sehen möchten [sic]»[2]. Mit diesem Erlebnis werde ich mich im Folgenden beschäftigen.

Dabei orientiere ich mich am Konzept der Autoethnographie, wobei bei dieser Forschungsmethode Andrea Ploder und Johanna Stadlbauer zufolge die «Forschenden […] ihre eigene gelebte Erfahrung [beschreiben und analysieren], um auf diesem Weg soziale und kulturelle Phänomene zu verstehen»[3]. Ich fokussiere mich auf meine Eindrücke, die ich im Rahmen des Besuches im VRC gewinnen konnte.

Bezüglich dieses Vorhabens lässt sich der Grossteil des vorliegenden Artikels hinsichtlich seiner Konzeption gewissermassen mit dem Abspielen eines Films vergleichen, wobei ich hie und da die ‹Pause-Taste› drücke. Die einzelnen Filmsequenzen korrespondieren mit episodischen Schilderungen, die verschiedene Erlebnisse und Eindrücke aus dem VRC oder dem Explorer wiedergeben. An verschiedenen Stellen werde ich die Pause-Taste drücken bzw. einen Stopp einlegen. Ein solches Innehalten – sprachlich ist es jeweils deutlich markiert – dient dem Beleuchten der vorangegangenen Episode auf einer tiefergehenden Reflexionsebene. Gegen Ende des Textes, wenn es darum geht, ein in sich zusammenhängendes Bild meines Explorer-Erlebnisses zu kreieren, werde ich vor allem auf die tiefergehenden Reflexionen zurückblicken. Zunächst will ich jedoch darlegen, was ich hinsichtlich des vorliegenden Artikels unter ‹Virtuelle Realität› verstehe.

Virtualität zum Einstieg

Den Begriff ‹Virtuelle Realität› mit all seinen unterschiedlichen Facetten und komplexen Aspekten fassbar zu machen, ist nicht einfach. Eine minutiöse Erörterung desselben würde den Rahmen des vorliegenden Artikels sprengen[4] – dennoch soll und darf der Begriff Virtuelle Realität nicht unbestimmt bleiben. Diesbezüglich ist bspw. Natascha Adamowsky zufolge «‹Virtuelle Realität› […] ein technischer Terminus. Er bezieht sich auf bestimmte VR (=virtual reality)-Techniken, die einen dreidimensionalen Raum schaffen, in dem der Betrachter bestimmte Interaktionserfahrungen machen kann»[5]. Während bei dieser Charakterisierung (computer-)technische Aspekte im Vordergrund stehen[6], ist auf der Homepage des VRC unter anderem Folgendes zu lesen: «Virtual Reality (VR) oder auch Real Virtuality (RV) sind längst nicht mehr an einen Stuhl gebunden.»[7] Hier wird eingangs der Fokus auf einen anderen, eher philosophischen oder psychologischen Aspekt gerichtet: Es wird eine ‹Entkünstlichung des Virtuellen› thematisiert. Dies ist insofern bemerkenswert, als sämtliche Erfahrungen, die ich im VRC machte, ‹real› waren in dem Sinne, dass sie bewusst erfolgten. So handelte es sich nicht um Träume, Phantastereien oder gar Wahnvorstellungen. Die gewiss aussergewöhnlichen Erfahrungen fanden bewusst statt – wie solche im Alltag.

In Anlehnung an die obigen Ausführungen verwende ich den Begriff ‹Virtuelle Realität› folgendermassen: Es handelt sich dabei um ein computergeneriertes Phänomen, das sich über ein sogenanntes ‹Head-Mounted Display› visuell wahrnehmen lässt, wobei die Wahrnehmungen als real existierend angesehen werden im obigen Sinne. Sofern ich über Virtuelle Realität nicht in allgemeiner Form referiere, sondern mit Bezug auf ein konkretes Beispiel, verwende ich den Begriff ‹Virtuelle Welt›. Weiter greife ich zum Beschreiben des Gegensatzes zu einer virtuellen Welt auf den Begriff der nicht-virtuellen Welt zurück. In Anlehnung an den Begriff ‹Reale Realität›[8] verstehe ich unter einer nicht-virtuellen Welt eine Welt, wie sie aus dem Alltag bekannt ist. Nach dieser terminologisch orientierten Passage sind wir nun bereit, um uns ins VRC zu begeben.

Welcome to the Virtual Reality Center

Das Virtual Reality Center befindet sich in einem grossen, unscheinbar wirkenden Industriegebäude, in dem ebenfalls das Spielen von Airsoft und Lasertag angeboten werden.[9] Von aussen konnte ich nicht erahnen, welche Welten sich innerhalb dieses Gebäudes erfahren lassen. Über die Homepage des VRC hatten wir das Erkunden des Explorer für eine bestimmte Uhrzeit am frühen Abend gebucht und waren nun schon sehr gespannt.

Nach unserer Ankunft suchten wir innerhalb des Gebäudes den Anmelde-Bereich auf. Durch einen Mitarbeiter des VRC wurden wir freundlich begrüsst, bevor in entspannter Atmosphäre zu dritt ein kurzes Einführungsgespräch stattfand. Im Rahmen desselben wurde unter anderem auf einer eher abstrakten, aber zugleich auch basalen Ebene thematisiert, was uns im Zusammenhang mit dem Explorer erwarten würde. Die Frage, ob wir schon über ähnliche Erfahrungen verfügten, mussten wir bekanntlich verneinen. Rückblickend wurde mir während des Gespräches nicht wirklich klar, was nachfolgend im Explorer auf mich zukommen würde. Dies war aber gewiss auch nicht das Ziel des Vorbereitungsgespräches. Erwähnt wurde vielmehr Grundlegendes, wie bspw. die folgende, doch ziemlich deutliche Anweisung des Mitarbeiters des VRC: «Tut im virtuellen Explorer grundsätzlich nichts, was ihr hier, in der Realität, auch nicht tun würdet!» Diese scheinbare Selbstverständlichkeit wird später noch von Bedeutung sein. Ausserdem ist es wichtig, im Vorfeld ein Einführungsgespräch zu führen, da es sich (zumindest aus meiner Sicht) eben doch um eine Erfahrung der besonderen Art handelt.

Anschliessend begaben wir uns in Begleitung des Mitarbeiters des VRC auf eine Treppe, die ins Untergeschoss führt. Mit einem Augenzwinkern lässt sich somit festhalten, dass sich der Zugang zur Virtuellen Realität im Keller befand. Klingt komisch, war aber so.[10]

Hier lohnt es sich, erstmals die Pause-Taste zu drücken und auf einer tiefergehenden Reflexionsebene einen Moment zu verweilen, denn an und für sich ist dieses Hinuntersteigen spannender und gehaltvoller, als man auf Anhieb meinen könnte. Rückblickend entstand in diesem Moment der Eindruck, die bekannte, sich auf der Erdoberfläche befindende Welt zu verlassen. Indem ich mich bewusst auf die Treppe begab, vollzog ich eine Grenzüberschreitung. Ich betrat eine Art Schwellen- oder Übergangsbereich, der sich zwischen dem hinter mir gelassenen Bekannten auf der Erdoberfläche und dem bevorstehenden Virtuellen im Untergrund befand und der (soweit ich es zu diesem Zeitpunkt wusste) zumindest einerseits deutlich abgegrenzt war. Diesen Bereich galt es nun, sowohl im physischen als auch im psychischen Sinne zu durchqueren, um in die ‹Neue Welt› zu gelangen. Wie man sich dies vorzustellen hat, schildere ich im Folgenden.

Getting into the Explorer

Noch während ich mich auf der Treppe befand, blickte ich in einen Teil eines Raumes, der eher zweckorientiert ausgestattet war. Aus meiner Perspektive befanden sich rechts, an Haken aufgehängt, Gerätschaften, die ich zuvor nur auf Bildern oder in Videos gesehen hatte. Es handelte sich dabei um die futuristisch anmutenden Ausrüstungsgegenstände, die im Zusammenhang mit dem Themenkomplex Virtuelle Realität charakteristisch sind und auf die ich später eingehen werde. Auf der linken Seite fiel mir ‹Computer-Zeugs› auf, ein Sammelsurium mir unbekannter technischer Apparaturen. Mir gegenüber befand sich ein Vorhang. Dahinter verbarg sich ein separierter Raum, in dem später das Explorer-Erlebnis stattfinden sollte. In natura haben weder Alberto noch ich dieses Gebiet je zu Gesicht bekommen. Über dies hinaus ist zu konstatieren, dass der oben erwähnte Schwellen- oder Übergangsbereich offensichtlich auch in Richtung der virtuellen Welt deutlich abgegrenzt war.

Anschliessend ging es an das Montieren der futuristisch anmutenden Ausrüstung. Sie bestand aus einer Brille – einem Head-Mounted Display – und einem Kopfhörer mit angehängtem Mikrophon, einem rucksackähnlichen Objekt, zwei Handschuhen und zwei Gamaschen (siehe Abb. 1).

Abb. 1: Ein Teil der VR-Ausrüstung

Die Brille diente der visuellen Wiedergabe der Explorer-Welt. Der Kopfhörer mit angehängtem Mikrophon, das Headset, ermöglichte die auditive bzw. verbale Kommunikation: einerseits zwischen Alberto und mir innerhalb des Explorer, anderseits mit einem Mitarbeiter des VRC, der sich (soweit ich dies beurteilen kann) nicht im Explorer befand. Das auf den Rücken zu schnallende Objekt beinhaltete weitere für das Erlebnis nötige Technik. Sowohl die Handschuhe als auch die Gamaschen waren so ausgestattet, dass die Bewegungen der Hände und Arme und diejenigen der Füsse und Beine erfasst und über das Head-Mounted Display widergegeben werden konnten. Auf das verblüffende Zusammenwirken der unterschiedlichen Ausrüstungsgegenstände, das sich an dieser Stelle womöglich nur vage erahnen lässt, werde ich später eingehen.

Nach dem Montieren der Ausrüstung – durch das Tragen des noch nicht aktivierten Head-Mounted Displays konnte ich nichts sehen ausser einem schwarzen Nichts – wurden wir in die noch unbekannte computergenerierte Welt eingefügt. Über den Kopfhörer vernahm ich die Instruktionen eines Mitarbeiters des VRC. Auf dem vorhin noch komplett schwarzen Brillen-Display erkannte ich sogleich eine menschenähnliche Gestalt, die mit seitwärts ausgestreckten Armen aufrecht dastand. Diese schablonenartig vorgegebene Position hatte ich einzunehmen und für einen Moment so zu verharren. Die komplexen, technischen Termini sind mir fremd, doch diente diese Prozedur unserer ‹Überführung› bzw. ‹Implementierung› in den computertechnischen ‹Code-Raum›, in die virtuelle Realität. Nach einem Moment kam wiederum über den Kopfhörer die Meldung, dass der Implementierungs-Prozess abgeschlossen sei. Nun waren wir für das Explorer-Erlebnis gewappnet – zumindest aus einer technischen Perspektive. Doch legen wir erneut eine Pause ein und blicken für einen Moment zurück auf diese Episode.

Während ich den oben genannten Übergangs- oder Schwellenbereich durchquerte, konnte ich die hochkomplexe Technologie, mit der man es zu tun hat, sobald man sich im Gebiet der virtuellen Realität bewegt, erahnen. Direkten Kontakt mit dieser Technologie hatte ich über die Ausrüstungsgegenstände. Diese wirkten auf den ersten Blick zwar befremdlich, zu einer abschreckenden Irritation kam es jedoch nicht. Vielmehr hatte ich den Eindruck, als würde ich – ähnlich wie bei einer mehr oder weniger ausgefallenen Sportaktivität – eine adäquate Ausstattung anziehen, um die virtuelle Realität erleben zu können. Über die Ausrüstung kam ich zusätzlich mit der Computertechnologie in Kontakt. Dieser war aber dermassen mittelbar, dass der Code-Raum für mich nicht wirklich fassbar wurde. Dies ist insofern faszinierend und zugleich verstörend, da ich das Gefühl hatte, in eine Gegebenheit eingefügt zu werden, die für mich im ‹klassischen› Sinne nicht fassbar war. Es fand eine massive Irritation statt, streifte ich doch die Grenze des eigentlich Denkbaren; es eröffneten sich gewissermassen neue Orte des Denkens bzw. des Seins.[11] Was dieses merkwürdige ‹Sein-im-Code-Raum› mit sich brachte, lege ich sogleich dar.

Facing Virtual Reality

Während weder Alberto noch ich etwas sehen konnten, wurden wir in den Raum geführt, den wir vorher aufgrund des Vorhanges nicht gesehen hatten. Dann auf einmal hatte das Abgeschottet-Sein ein Ende. Plötzlich sah ich mich mit einer vollkommen unbekannten Situation konfrontiert; über die Brille nahm ich eine ungewohnte Welt wahr (Abb. 2).

Abb. 2: Ein Blick in den Explorer

Die Umgebung weckte prompt die Assoziation, inmitten eines unglaublich realistisch wirkenden Filmszenarios zu sein. Dazu trug ebenfalls die Soundkulisse bei: Ich vernahm natürlich scheinende Klänge. Die Geräusche passten zum Ambiente. Bewusst künstlich wirkende Sounds hörte ich nicht. Vielmehr klangen sie so, wie ich es eben gewohnt bin bzw. in einer derartigen Umgebung erwarten würde. Die Immersion –
d. h. in diesem Fall: das Eintauchen in die virtuelle Welt des Explorer – war überwältigend. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, abermals einen Stopp einzulegen.

Nicht nur in Verbindung mit dem Themenkomplex Virtuelle Realität spielt der Aspekt der Immersion eine bedeutende Rolle.[12] Britta Neitzel und Rolf F. Nohr zufolge gewinnt der Prozess der Immersion «aber [unter anderem] innerhalb der Diskussion um […] virtuelle Welten neue Aktualität […]»[13]. Dies liegt insbesondere daran, dass sich in diesem Kontext die zentrale Frage stellt, von welcher Qualität die Immersion in Verbindung mit technologischen Aspekten ist. Es gilt jedoch ebenso zu beachten, ob die Immersion gewissermassen kontinuierlich stattfindet oder ob bzw. wann und in welchem Zusammenhang es womöglich zu einem Immersionsbruch kommt bzw. kommen kann. Bei einem derartigen Bruch findet sozusagen ein mehr oder weniger ausgeprägtes ‹Austauchen› aus der virtuellen Welt statt. So gewinnt zum Beispiel die Nicht-Virtualität plötzlich an Bedeutung, ohne dass man die virtuelle Welt wirklich verlässt.[14] Für Alberto und mich ging es nun ans Eintauchen in den Explorer, was auf eine verblüffende Weise stattfand.

To Look Like a Stormtrooper

In der virtuellen Welt erkannte ich Alberto in Form eines Avatars; seine Gestalt erinnerte mich prompt an einen Stormtrooper aus Star Wars! Dass es sich bei dieser Figur allerdings um Alberto handelte, wurde mir aufgrund seiner gewohnten Stimme, die ich über den Kopfhörer vernahm sowie dem Vertrauen in meine Erwartungshaltung bewusst; immerhin hatten wir beschlossen, den Explorer gemeinsam zu erkunden. Sein neues Aussehen hatte nämlich mit seiner Erscheinung, wie sie mir ansonsten bekannt ist, nicht allzu viel gemein.

Bald stellte ich fest, dass ich ebenfalls ein solcher Stormtrooper war! Ich blickte an mir hinunter und sah mich in der Gestalt des Avatars. Wenn ich meinen Arm bewegte, dann bewegte sich der Arm des Avatars (Abb. 3). Wenn ich meine Hand vor mein Gesicht führte, dann sah ich dementsprechend die Hand des Avatars. Wenn ich ging, dann ging der Avatar. Ich war der Avatar!

Abb. 3: Wir, die Stormtrooper

Der Eindruck, vollständig in die virtuelle Welt des Explorer eingetaucht zu sein, erhärtete sich. Mit einer Game-Erfahrung, bei der ich auf einen zweidimensionalen Computer-Bildschirm blicke und sozusagen als Externer bspw. in der First Person-View eine Figur mittels Tastenkombinationen oder Mausklicks durch eine fiktive Welt manövriere, hatte das nichts zu tun. Nun wurde mir bewusst, dass ich im Explorer war, in dem «[s]imple Missionen ähnlich wie bei einem Escape Room […] einem eine wunderbare Erfahrung in der Welt der virtuellen Realität [verschaffen]»[15]. Bevor ich mit meinen Ausführungen dazu fortfahre, drücke ich einmal mehr die Pause-Taste.

Rückblickend stellt sich die Frage, ob die oben verwendete Bezeichnung ‹Avatar› sinnvoll gewählt wurde. Immerhin hatte ich nicht den Eindruck, als sei der Stormtrooper wie ein Avatar bloss «eine ‹Marionette›»[16], die ich «manipulieren kann, ohne […] [mich] mit ihr identifizieren zu müssen»[17]. Mit Bezug auf Ausführungen von Richard Bartle eignen sich die Begriffe ‹Character› oder ‹Persona› womöglich besser, um meine Verbundenheit (oder gar die Verschmelzung) mit der Gestalt des Stormtroopers zu charakterisieren.[18] Jedoch hatte ich nicht das Gefühl, als repräsentiere mich der Stormtrooper in der virtuellen Welt, was unter anderem für den Character bezeichnend ist.[19] Ebenso kam es nicht zu einer «vollständigen mentalen Verschmelzung»[20] zwischen mir und dem Stormtrooper, wie es für den Typ der Persona charakteristisch ist.[21] ‹Meinen› Stormtrooper als Character oder als Persona zu bezeichnen, ist also nicht angemessen. Vielmehr hatte ich das Gefühl, als sei der Stormtrooper eine Art virtuelle Uniform bzw. Verkleidung, in die ich,  d. h. meine Person, hineinschlüpfte, um innerhalb des Explorer agieren, reagieren und interagieren zu können.[22] Dort hatte ich derweil jedoch nicht die nötige Musse, um mich mit solchen Fragen zu beschäftigen.

 

Beam Us Up

Sobald sich die Verwunderung über unser ‹neues Ich› etwas gelegt hatte und wir uns im ersten gross angelegten Terrain befanden, begannen wir, zaghaft in der noch fremden Welt umherzugehen. Der Eindruck, mich in einer komplett ungewohnten, aber unglaublich realistisch wirkenden Umgebung aufzuhalten, erhärtete sich. Dazu trug ausserdem die Möglichkeit bei, bspw. nach verschiedenen, sichtbaren Gegenständen zu greifen und diese ertasten zu können. Es war ebenfalls möglich, möbelähnliche Gegenstände wie gewohnt herumzuschieben. Bereits jetzt, nach sehr kurzer Zeit, hatte ich zuweilen das Gefühl, mich nicht in einer steril wirkenden, rein artifiziellen Computer-Landschaft aufzuhalten, sondern vielmehr in einer nach physikalischen Gesetzen funktionierenden Welt zu sein. Diesbezüglich bildete die folgende Situation ein Highlight.

Nachdem wir planlos ein Terrain erkundet hatten, fanden wir am Ende des Geländes ein paar Beamer-Stationen vor. Wir vermuteten, dass uns diese Transport-Objekte beim Weiterkommen behilflich sein könnten, doch leider war der Zugang versperrt. Über den Kopfhörer schaltete sich ein Mitarbeiter des VRC ein: Er gab uns den Hinweis, in unserer unmittelbaren Umgebung nach einer Möglichkeit zu suchen, um die Sperre beseitigen zu können. Vor uns auf dem Boden lag jedoch nur ein simpler Backstein. Alberto äusserte spontan, dass mit diesem Gegenstand wohl irgendetwas anzustellen sei – doch was nur? Schliesslich fanden wir heraus, dass sich in einer Wand eine Auslassung befand, in die der Backstein haargenau hineinpasste. Und Tatsächlich: sobald wir den Backstein in den Hohlraum eingefügt hatten, war der Weg zu den Transport-Stationen frei. Geschafft! Zusätzlich gelang es uns, die Beamer zu aktivieren – ganz im Sinne eines Escape Rooms war auch hierfür eine Aufgabe zu lösen[23], auf die ich jedoch nicht eingehen werde. Alberto und ich stellten uns jeweils auf eines der runden Objekte und zack: Schlagartig wurden wir in ein neues Terrain katapultiert. Das Erkunden des Explorer konnte weitergehen. Bevor ich mit dem Schildern meines Explorer-Erlebnisses weiterfahre, lohnt es sich jedoch, an dieser Stelle einen Moment zu verweilen, eine Pause einzulegen.

In Anlehnung an Ausführungen von Jochen Venus kann in der Backstein-Episode eine aussergewöhnliche Form erlebten Handelns beobachtet werden. Bei meinem Herumhantieren mit dem Backstein zeigte sich keine «offenkundige Künstlichkeit des erlebten Handelns»[24], wie es in Computerspielen «vor allem durch die Abstraktion von körperlichem Spüren und kognitiver Verantwortlichkeit erzeugt»[25] wird. Vielmehr entstand der Schein einer Natürlichkeit des erlebten Handelns, da mein Agieren bzw. mein Erleben desselben unglaublich realistisch war. Ich hatte den Eindruck, als seien die körperliche und die kognitive Ebene derart miteinander verwoben, wie ich es aus dem Alltag gewohnt bin. Ich war gewissermassen «mit ‹ganzem Körpereinsatz› dabei»[26]. Es darf aber nicht vergessen werden, dass ich mich eigentlich in einer virtuellen Welt befand. Dass es dort wie im Alltag zu Situationen kommen kann, die zugleich belustigend und bizarr sind, verdeutlicht die nachfolgend geschilderte Situation.

There’s Only One Way

Zu Beginn einer Episode befanden wir uns in einer höhlenartigen Umgebung. Auf einmal brach ein Teil des Bodens weg. Übrig blieben zwei aus Stein bestehende Plattformen und ein schmales Holzbrett, das die beiden Plattformen miteinander verband. Vor uns tat sich ein endlos wirkender Abgrund auf. Um weiter zu kommen, mussten wir über das Holzbrett gehen. Dass dies die einzige Möglichkeit war, die sich uns bot, wurde uns nach mehrmaligem Umherschauen klar. Der Eindruck des vor uns liegenden Abgrundes war dermassen realistisch, dass sowohl Alberto als auch ich uns nicht trauten, schnurstracks über das plankenartige Holzbrett zu laufen. An dieser Stelle war die Anweisung des Mitarbeiters des VRC auf einmal wieder präsent: «Tut im virtuellen Explorer grundsätzlich nichts, was ihr hier, in der Realität, auch nicht tun würdet!» Doch wollten wir selbstverständlich nicht aufgeben, sondern weiterkommen. Nach verhaltenem Zögern beschlossen wir, nacheinander auf allen Vieren den Abgrund zu überwinden. Alberto kroch zuerst.

Während ich dann auf allen Vieren über das Holzbrett krabbelte, verlor ich die Gamaschen, was zur Folge hatte, dass meine virtuellen Beine verharrten, während sich mein computergenerierter Oberkörper weiterbewegte. Obschon ich gespürt hatte, wie die Gamaschen abgefallen sind, war mir zunächst nicht bewusst, was da eigentlich geschehen war: Meine Beine sind augenscheinlich abhandengekommen! Ich war sozusagen in zwei Teile geteilt, wobei ich nur noch über einen Teil die Kontrolle hatte. Wie ein bizarr wirkender Geist schwebte ich durch den Raum, ohne auch nur den kleinsten Schmerz zu verspüren. Was würde wohl jemand wie David Copperfield dazu sagen? Während Alberto und ich lachten, stellte sich mir zusätzlich die Frage, wie ich denn nun wieder an meine Beine kommen könnte. Ich hatte nämlich keine Lust, mich nochmal auf dieses Holzbrett zu begeben. Wiederum schaltete sich ein Mitarbeiter des VRC über die Kopfhörer ein: Ich vernahm die knappe Anweisung, stehen zu bleiben und einen Moment zu warten. Schon kurz darauf spürte ich, wie mir wie von Geisterhand jemand die Gamaschen wieder anzog und mir aus der prekären Situation half. Ich war wieder ganz! Das Erkunden des Explorer konnte (nun auch für mich) im wahrsten Sinne des Wortes wie gewohnt weitergehen. An dieser Stelle drücke ich wiederum die Pause-Taste, um die Holzbrett-Episode aus einer weiteren Perspektive zu beleuchten.

In der Holzbrett-Episode kam es im Gegensatz zu derjenigen mit dem Backstein zu einem abrupten Bruch zwischen dem Virtuellen und dem Nicht-Virtuellen. Durch diesen Immersionsbruch, der sich in Verbindung mit dem Verlieren der Gamaschen ergab, wurde mir wieder bewusst, dass ich es einerseits mit einer computergenerierten, artifiziellen Welt zu tun hatte, in der es ungeahnte Möglichkeiten gibt (wie bspw. das schmerzfreie Abhandenkommen von Beinen). Anderseits stand ich im wörtlichen Sinne mit beiden Beinen in einer nicht-virtuellen Welt, so wie ich es aus dem Alltag kenne. Die beiden Gegebenheiten schienen voneinander getrennt zu sein. Insofern sucht man eine Verwobenheit des Virtuellen mit dem Nicht-Virtuellen, die den schier unglaublichen Eindruck des Gewohnten vermittelt, vergebens. Die beiden Welten als vollständig abgekoppelt voneinander aufzufassen, wäre jedoch falsch. Adäquater ist die Ansicht, dass die Immersion während der Holzbrett-Episode zwar kurzfristig gestört, aber nicht vollständig aufgehoben wurde. Dies verdeutlicht die Tatsache, dass das Explorer-Erlebnis nach dem Montieren der Gamaschen mühelos weitergehen konnte. Allzu viel Zeit im Explorer war uns jedoch nicht mehr gegeben, denn die zwanzig Minuten Aufenthalt neigten sich dem Ende zu.

Back to Reality

Via Kopfhörer wurden wir angewiesen, uns in eine Kabine zu begeben, die sich unmittelbar vor uns befand. Diese Kabine existierte nur in der virtuellen Welt, weshalb man bspw. durch die Kabinenwände hindurchgreifen konnte. Trotzdem gingen wir durch den vorgesehenen Eingang, wie wir es uns aus dem Alltag gewohnt sind. Nach einer vorbereitenden Ankündigung wurde die virtuelle Welt ‹heruntergefahren›. Das Brillen-Display wurde wieder schwarz, die phantastische Umgebung samt uns Stormtroopern und den Gegenständen verschwand. Wie zuvor sah ich nichts weiter als das schwarze Nichts. Das Gefühl des Abgeschottet-Seins war wieder da.

Kurz darauf wurden wir wieder an den Ausgangspunkt hinter dem Vorhang geführt. Erst jetzt durften wir die Brille ablegen. Bildlich gesprochen streifte ich dadurch endgültig meine virtuelle Ummantelung ab. Ich war wieder ich! Ebenso erinnerte mich Alberto nicht mehr an einen Stormtrooper aus Star Wars. Meine Umgebung nahm ich wieder so wahr, wie ich es aus dem Alltag gewohnt bin. Die nicht-virtuelle Welt war wieder da. Die gemeinsam unternommene Reise durch den Explorer war zu Ende und die Schilderung derselben endet hier. Wie eingangs erwähnt, wird es im Folgenden darum gehen, ein in sich zusammenhängendes Bild meines Explorer-Erlebnisses zu kreieren. 

Virtuelle Begebenheiten – reale Fragen

Die vorausgegangenen Reflexionen dienen als Grundlage für die folgenden Ausführungen, wobei ich erst nur auf interessante Aspekte hinweise, diese aber nicht beleuchte. So könnten zuerst, ausgehend von der ersten Reflexion, in der das Hinuntersteigen ins Untergeschoss thematisiert wird, weitere Überlegungen angestellt werden. Denn der mit diesem Abstieg unweigerlich auftretende Gedanke, den Explorer als eine Art Unterwelt zu interpretieren, aus der man am Ende wieder emporsteigt, drängt sich auf. Damit verbunden stellt sich die Frage, inwiefern der Explorer mit dem Konzept der Heterotopie gemäss Michel Foucault in Verbindung gebracht werden kann.[27] Allein schon das gedankliche Herantasten an die Vorstellung, die Explorer-Welt für einmal als «tatsächlich realisierte Utopie […]»[28], als «Ort […] außerhalb aller Orte»[29] aufzufassen, scheint interessant zu sein. Zweitens wäre in diesem Zusammenhang spannend, das Spektakelhafte zu ergründen. Gerade der Aspekt des Verborgen-Seins in Verbindung mit dem Vorhang erinnert an eine spezielle Inszenierung, in der ich nicht bloss ein Rezipient, sondern zugleich ein Akteur war.

Genauer beleuchten möchte ich aber folgende, aus meiner Sicht grundlegende Thematik: Mit Bezug auf die Episode mit dem Backstein und derjenigen mit dem Holzbrett tauchen offensichtlich immersionsbedingte Widersprüchlichkeiten auf Eine Tatsache, die das Kreieren eines in sich zusammenhängenden Bildes meiner Explorer-Erfahrungen fundamental erschüttern könnte und deshalb unbedingt einer Untersuchung bedarf. Vor diesem Hintergrund schlage ich nicht den oben skizzierten Weg ein, sondern gehe der Frage nach, inwiefern sich die in Verbindung mit dem Aspekt der Immersion auftretenden Widersprüchlichkeiten fassen lassen, wobei ich das ursprüngliche Ziel, das Kreieren eines in sich zusammenhängenden Bildes meines Explorer-Erlebnisses, nicht aus den Augen verlieren will. Hinsichtlich dieses Vorhabens beleuchte ich im folgenden ersten Abschnitt (‹Ein Zusammenspiel unterschiedlicher Aktanten›), wie mein Kontakt mit der virtuellen Welt des Explorer stattfand. Dabei betrachte ich zum Einstieg die Gestalt des Stormtroopers. Der gegenseitigen Beeinflussung der virtuellen Welt und der nicht-virtuellen Welt ist die zweite Passage (‹Gegenseitige Beeinflussung zweier Welten›) gewidmet. Diesbezüglich werde ich auf die Backstein- und die Holzbrett-Episode blicken. Im dritten und letzten Abschnitt (‹Ein Bild des Paradoxen›) führe ich aus, in welchem Verhältnis der Aspekt des Virtuellen und derjenige des Nicht-Virtuellen zueinander standen. Die dadurch gewonnen Erkenntnisse dienen einerseits dazu, die immersionsbedingten Widersprüchlichkeiten fassbar zu machen, anderseits wird sich anhand derselben das in sich zusammenhängende Bild meines Explorer-Erlebnisses gestalten lassen.

Ein Zusammenspiel unterschiedlicher Aktanten

Wie erwähnt, hatte ich den Eindruck, als sei die Gestalt des Stormtroopers eine Form von virtueller Uniform oder Verkleidung. Diese Sichtweise ist insofern spannend, als es sich bei dieser ‹Maskerade› nicht um eine solche handelte, wie man sie bspw. vom Karneval kennt. Es war eine computergenerierte, sozusagen artifizielle Ummantelung, die erst in Verbindung mit hochkomplexer Technik erlebbar war. Die Existenz des Stormtroopers war wie diejenige der gesamten virtuellen Explorer-Welt an den Code-Raum gebunden.

Aufgrund dieser Begebenheit war es für mich nicht ohne Weiteres möglich, die virtuellen Entitäten unmittelbar wahrzunehmen. Es war ein adäquates ‹Ding› nötig, ein Interface, um mit der virtuellen Welt des Explorer und meiner Repräsentation in derselben in Kontakt treten zu können.[30] Dieses Interface lieferte die Brille – oder um es in Anlehnung an die Terminologie Bruno Latours zu formulieren: Es war das Head-Mounted Display in seiner Funktion als Aktant, das mich die virtuelle Welt samt meiner Repräsentation in derselben erst erfahren liess.[31] Es verband mich mit dieser Welt, es wurde zum Bindeglied.

Dieses Erfahren von Virtualität fand jedoch nicht ausschliesslich auf der visuellen Wahrnehmungsebene statt. Um die überwältigende Immersion gesamthaft erleben zu können, waren nebst dem Head-Mounted Display andere Aktanten tätig bzw. nötig. Das Headset (bestehend aus Kopfhörer und Mikrophon) erfüllte drei unterschiedliche Funktionen: Erstens konnte ich auf der auditiven Ebene erst in Verbindung mit dem Kopfhörer die adäquate Soundkulisse des Explorer wahrnehmen. Zweitens war auf der auditiv-verbalen Ebene die Kommunikation zwischen Alberto und mir innerhalb des Explorer sowohl via Kopfhörer als auch via Mikrophon möglich. Drittens fand ebenfalls in Verbindung mit diesen beiden Aktanten eine Kommunikation aus der virtuellen Welt des Explorer in die nicht-virtuelle Welt des VRC-Mitarbeiters statt. Darüber hinaus trug ich speziell ausgestattete Handschuhe und Gamaschen. Diese Aktanten ermöglichten den Eindruck, im Explorer umhergehen oder andere Tätigkeiten ausführen zu können. Zwischen den genannten Aktanten fand ein zugleich verblüffendes und beeindruckendes Zusammenspiel statt. Dies begründete in verschiedenen Situationen mein Gefühl, im Explorer zu sein und die gewohnte Nicht-Virtualität hinter mir gelassen zu haben.

Gegenseitige Beeinflussung zweier Welten

Wenn man nun vor diesem Hintergrund auf die jeweilige Reflexion zur Backstein- bzw. Holzbrett-Episode zurückblickt, fallen wie erwähnt Widersprüchlichkeiten auf. Auf der einen Seite kam es in der Backstein-Episode zu einer überwältigenden Immersion: Ich hatte das Gefühl, nahezu vollständig in die virtuelle Welt des Explorer eingetaucht zu sein. Hinsichtlich meiner Wahrnehmung der Umgebung herrschte eine verblüffende Harmonie, da ich dieselbe so wahrnahm, wie ich es aus dem Alltag gewohnt bin.

Zu einer ähnlichen Situation kam es während der Holzbrett-Episode, als Alberto und ich vor dem endlos wirkenden Abgrund standen. Bekanntlich war der Eindruck desselben derart realistisch, dass wir nicht aufrecht über das schmale Holzbrett marschieren konnten. Es dauerte eine Weile, bis wir vorsichtig auf allen Vieren hinüberkrochen. Es lag offensichtlich eine Wirkung von der virtuellen Welt auf unser nicht-virtuelles Verhalten vor. Es entstand ein stimmiger Gesamteindruck der Situation, der trotz allem als eine wahrnehmungsbezogene Harmonie interpretiert werden kann, als ein Gefühl einer überwältigenden Immersion.

In der Holzbrett-Episode kam es aber auch zu einem Immersionsbruch. Der Grund hierfür war ein nicht-virtuelles Missgeschick, bei dem ich die Gamaschen verlor. Dies führte zu einer Diskrepanz: Ich spürte, auf meinen nicht-virtuellen Beinen umherzugehen, während ich sah, dass meine virtuellen Beine auf dem Holzbrett verharrten. Es kam zu einer wahrnehmungsbedingten Disharmonie, da ich mich selbst nicht mehr als Einheit wahrnahm. Die virtuelle Welt und die nicht-virtuelle Welt schienen auf einmal disparat nebeneinander zu liegen. In Verbindung mit den beiden zuvor geschilderten Situationen, kam es somit zu immersionstechnischen Widersprüchlichkeiten und Verwirrungen.

Ein Bild des Paradoxen

Berücksichtigt man zusätzlich, dass ich mir ständig bewusst war, mich eigentlich in einem nicht-virtuellen Raum aufzuhalten, so gelangt man zur Ansicht, dass ich mich stets in einem komplexen System befand, das in einem Bereich verortet werden kann, der sich zwischen zwei, an und für sich kontradiktorischen, Welten befand: einerseits der virtuellen und anderseits der nicht-virtuellen. An der Schnittstelle zwischen dem Virtuellen und dem Nicht-Virtuellen entstand das Gefühl, in einem realisierten Paradoxon zu sein, das seine Repräsentation infolge meiner Wahrnehmung des Aufeinandertreffens von Virtualität und Nicht-Virtualität fand.[32] Erfahren habe ich die Repräsentation des Paradoxons durch die Wahrnehmung meines Seins und Handelns innerhalb desselben, wobei es in Verbindung mit dem Aspekt der Immersion dabei zu unterschiedlich gearteten Formen der Irritation kam.

Das Fundament für diese extraordinären, zuweilen kontradiktorischen Zustände erlebten (bzw. gelebten) Handelns bildeten einerseits der Aspekt des Virtuellen und anderseits derjenige des Nicht-Virtuellen. Von dieser Basis ausgehend, sind in Bezug auf das oben genannte realisierte Paradoxon die immersionsbedingten Widersprüchlichkeiten fassbar. Ausserdem entsteht – sofern man die soeben aufgeführte Perspektive einnimmt – ein abstraktes Konstrukt: ein gewissermassen zusammenhängender Rahmen, in dem sich meine Explorer-Erfahrungen trotz all ihrer Widersprüchlichkeiten verorten lassen.

Innerhalb dieses Rahmens lässt sich das Bild meines Explorer-Erlebnisses malen, wobei der Aspekt der Immersion als Grundlage dient, auf der verschiedene Nuancen und Überlappungen von Virtualität und Nicht-Virtualität aufgemalt werden. Diesbezüglich liegt exemplarisch die Backstein-Episode in einem Teil des Bildes, in dem die Virtualität dominiert, in dem die Nicht-Virtualität bloss im Hintergrund, sozusagen im Sinne einer matten Grundierung, leicht durchschimmert. Hingegen befindet sich zum Beispiel die Holzbrett-Episode in einem Bereich, in dem eine Mischung von Virtualität und Nicht-Virtualität vorliegt, indem sich die beiden Aspekte gewissermassen die Waage halten, obschon es eigentlich zu Schwankungen kommt. Ein in sich zusammenhängendes Bild meines Explorer-Erlebnisses ist somit geschaffen.

Fazit und Ausblick: Facing Virtual Reality?

Das Faszinierende an diesem Gemälde ist die unübersehbare Tatsache, dass nebst dem mehr oder weniger ausgeprägten Eintauchen in die virtuelle Welt des Explorer der Aspekt des Nicht-Virtuellen omnipräsent ist. Dies bestärkte den Eindruck, den ich während meines Aufenthalts im Explorer hatte: Ich erlebte die virtuelle Welt, doch war ich mir ständig bewusst, dass ich eigentlich in einem nicht-virtuellen Raum umherging und eigentlich nicht-virtuelle Gegenstände ertastete.

Wie bereits erwähnt, bewegte ich mich kontinuierlich im Grenzbereich zwischen dem Virtuellen und dem Nicht-Virtuellen. Gesamthaft betrachtet, befand ich mich stets in einem Pendeln zwischen Immersion und Immersionsbruch, wobei der Immersionsbruch das Bewusstsein der Nicht-Virtualität darstellt. In Verbindung mit diesem unausgeglichenen Balance-Akt, der auf verblüffende und faszinierende Weise eben doch funktionierte, leisten meine Erfahrungen aus dem Explorer bzw. die Beschäftigung mit denselben somit einen empirischen Beleg für die folgende, theoretisch mühelos nachvollziehbare Ansicht: Virtualität ist erst im asymmetrischen Zusammenwirken mit Nicht-Virtualität erlebbar oder erfahrbar, wobei sich die Asymmetrie infolge einer Abhängigkeit seitens der Virtualität deutlich zeigt. Allein schon um Virtualität denken und erschaffen zu können, muss Nicht-Virtualität vorhanden sein.[33]

Insofern ist einerseits die hie und da zu vernehmende Aussage, dass im Zusammenhang mit Virtueller Realität ein komplettes Eintauchen in eine virtuelle Welt stattfindet[34], vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen aus dem Virtual Reality Center differenziert bzw. mit einer gewissen Skepsis zu betrachten. Anderseits stellt sich die Frage, inwiefern sich das Verhältnis von Virtualität und Nicht-Virtualität im Zusammenhang mit technologischen Entwicklungen verändern wird. Medienberichten zufolge soll es bereits möglich sein, eine virtuelle Welt verstärkt ganzheitlich (d.h. mit dem Körper) erleben zu können: Durch das Tragen eines Anzugs soll Virtualität angeblich fühlbar sein![35] Es scheint also bereits eine noch stärkere Immersion erfahrbar zu sein, bei der Wahrnehmungen auf der virtuell-visuellen Ebene – wie ich sie im Explorer erlebte – bloss einen Teil des Gesamteindrucks einer virtuellen Welt repräsentieren. Dennoch handelte es sich bereits bei meinem Eintauchen in den Explorer um ein spannendes und unvergessliches Erlebnis.[36]

Quellenverzeichnis

Audiovisuelle Quellen

Sekundärliteratur

  • Adamowsky, Natascha: Spielfiguren in virtuellen Welten. Frankfurt a. M.: Campus, 2000.
  • Bartle, Richard A.: Designing Virtual Worlds. Berkeley (California): New Riders, 2004.
  • Bauer, Matthias und Christoph Ernst: Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld. Bielefeld: Transcript, 2010 (Kultur- und Medientheorie).
  • Bruns, Matthias: Virtual Reality. Eine Analyse der Schlüsseltechnologie aus der Perspektive des strategischen Managements. Hamburg: Diplomica, 2015.
  • Foucault, Michel: Andere Räume. In: Barck, Karlheinz, Peter Gente, Heidi Paris u.a. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Leipzig: Reclam, (1990) 6 1998 (Reclam-Bibliothek, Bd. 1352), 34–46.
  • Grimshaw, Mark (Hrsg.): The Oxford Handbook of Virtuality. Oxford: University Press, 2014.
  • Gualeni, Stefano: Virtual Worlds as Philosophical Tools. How to Philosophize with a Digital Hammer. Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2015.
  • Institut für immersive Medien (Hrsg.): Immersion. Abgrenzung, Annäherung, Erkundung. Marburg: Schüren, 2011 (Jahrbuch immersiver Medien, 2011).
  • Kipper, Gregory und Joseph Rampolla: Augmented Reality. An Emerging Technologies Guide to AR. Waltham (Mass.): Syngress, 2013.
  • Kühn, Anja: Computerspiel und Immersion. Eckpunkte eines Verständnisrahmens. In: Institut für immersive Medien (Hrsg.): Immersion. Abgrenzung, Annäherung, Erkundung. Marburg: Schüren, 2011 (Jahrbuch immersiver Medien, 2011), 50–62.
  • Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007.
  • Neitzel, Britta und Rolf F. Nohr: Game Studies. In: MEDIENwissenschaft, 4/2010, 416–435.
  • Nicholson, Scott: Peeking Behind the Locked Door. A Survey of Escape Room Facilities. Scott Nicholsons Homepage, 24. 05. 2015 (http://scottnicholson.com/pubs/erfacwhite.pdf, abgerufen: 30. 04. 2017).
  • Ploder, Andrea und Johanna Stadlbauer: Autoethnographie und Volkskunde? Zur Relevanz wissenschaftlicher Selbsterzählungen für die volkskundlich-kulturanthropologische Forschungspraxis. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 116 (2013), 374–404.
  • Sturm, Gabriele: Der virtuelle Raum als Double – oder: Zur Persistenz hierarchischer Gesellschaftsstruktur im Netz. In: Funken, Christiane und Martina Löw (Hrsg.): Raum – Zeit – Medialität. Interdisziplinäre Studien zu neuen Kommunikationstechnologien. Opladen: Leske + Budrich, 2003, 237–254.
  • Venus, Jochen: Erlebtes Handeln in Computerspielen. In: GamesCoop: Theorien des Computerspiels zur Einführung. Hamburg: Junis, 2012, 104–127.
  • Zimmerman, Eric: Manifest für ein ludisches Jahrhundert. In: Beil, Benjamin, Gundolf S. Freyermuth und Lisa Gotto (Hrsg.): New Game Plus. Perspektiven der Game Studies. Genres – Künste – Diskurse. Bielefeld: Transcript, 2015, 19–23.

Internetquellen

Abbildungsverzeichnis

 

[1] Alberto gebührt an dieser Stelle mein herzlicher Dank, da er mich auf das VRC aufmerksam machte.

 

[2] Virtual Reality Center 2017, Angebot: Explorer.

 

[3] Ploder und Stadlbauer 2013, 376.

 

[4] Vgl. dazu Grimshaw 2014.

 

[5] Adamowsky 2000, 9 (Hervorhebungen aus dem Original übernommen).

 

[6] Vgl. dazu auch Sturm 2003, 239ff.

 

[7] Virtual Reality Center 2017, Startseite: ‹Was ist VR›.

 

[8] Vgl. Sturm 2003, 240.

 

[9] Vgl. Live Action Games 2017, Startseite.

 

[10] In Anlehnung an Christian Tramitz‘ Peter Lustig-Parodie im Rahmen der Bullyparade (vgl. Bullyparade 2009, ab 0:10).

 

[11] Vgl. in diesem Zusammenhang Gualeni 2015.

 

[12] Vgl. dazu Institut für immersive Medien 2011.

 

[13] Neitzel und Nohr 2010, 427.

 

[14] Zum Aspekt des Immersionsbruchs vgl. Bruns 2015, 11f.

 

[15] Virtual Reality Center 2017, Angebot: Explorer.

 

[16] Kühn 2011, 55.

 

[17] Ebd., 55.

 

[18] Vgl. Bartle 2004, 154f.

 

[19] Vgl. Kühn 2011, 56.

 

[20] Ebd., 56.

 

[21] Vgl. ebd., 56.

 

[22] Zum Aspekt des Agierens, Reagierens und Interagierens vgl. Neitzel und Nohr 2010, 426f.

 

[23] Vgl. dazu Nicholson 2015.

 

[24] Venus 2012, 120.

 

[25] Ebd., 120.

 

[26] Ebd., 120.

 

[27] Vgl. dazu Kühn 2011, 55.

 

[28] Foucault 1998, 39.

 

[29] Ebd., 39.

 

[30] Zur Funktionalität des Interface vgl. Neitzel und Nohr 2010, 427f.

 

[31] Vgl. Latour 2007, 123.

 

[32] Zum Aspekt des Seins in einem widersprüchlichen System vgl. Zimmerman 2015, 21.

 

[33] Vgl. Bauer und Ernst 2010, 170.

 

[34] Vgl. dazu Kipper und Rampolla 2013, 22.

 

[35] Vgl. Trends der Zukunft 2016.

 

[36] Insofern gebührt den Mitarbeiter/innen des Virtual Reality Center mein besonderer Dank, denn ohne sie – bzw. ihr kreatives und beeindruckendes Schaffen – wäre das Erleben der aussergewöhnlichen Erfahrungen, mit denen ich mich in diesem Artikel beschäftigt habe, nicht möglich gewesen.